Ein Tor in den Westen? Wie DDR-Bürger versuchten, über Rumänien in die Bundesrepublik zu gelangen (AUDIO)

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Rumänien als Ausgangspunkt für einen Fluchtversuch

In dem nachfolgenden Beitrag geht es um ein Phänomen aus dem Kalten Krieg und der deutschen Teilung, das gerne als „Die verlängerte Mauer“ bezeichnet wird.1 Dieser Begriff knüpft an den Bau der Berliner Mauer im August 1961 an. Damals schloss die DDR-Führung die letzte offene Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten und stoppte so die Massenflucht der Menschen aus der DDR. In den zwölf Jahren von 1949 bis 1961 waren rund 2,6 Millionen Menschen von Ost- nach Westdeutschland geflüchtet.2

Doch auch der Mauerbau brachte die Fluchtbewegung nicht völlig zum Stillstand. Die Menschen suchten nun andere Wege, um aus der DDR in die Bundesrepublik zu gelangen. Viele hofften, über andere sozialistische Länder einen Weg in den Westen zu finden. Sie gingen davon aus, dass dort die Grenzen leichter zu überwinden seien, wie es in der DDR der Fall war. Allerdings trafen sie auch dort auf scharf bewachte Grenzen, die sie als eine Verlängerung der Berliner Mauer wahrnahmen.

Zahlreiche DDR-Bürger hatten sich gerade in Rumänien günstige Bedingungen für eine Flucht erhofft. Sie glaubten, die Grenze zwischen Rumänien und Jugoslawien sei ja nur eine Grenze zwischen zwei sozialistischen Ländern und werde deshalb weniger streng bewacht als die Grenzen gegenüber westlichen Ländern. Und sie nahmen wahr, dass es seit den späten 1960er-Jahren zwischen Rumänien und dem jugoslawischen Nachbarn eine politische Annäherung gab, während die Differenzen Rumäniens mit den anderen sozialistischen Staaten seither sichtbar zunahmen und sich Rumänien mehr den westlichen Ländern zuwandte.

Nachdem beispielsweise im Januar 1967 Rumänien mit der Bundesrepublik Deutschland die Aufnahme diplomatischer Beziehungen vereinbarte und damit die Deutschlandpolitik der DDR torpedierte, polemisierte die maßgebliche DDR-Tageszeitung „Neues Deutschland“ in einem Kommentar, Rumänien gefährde mit seinem Schritt den Frieden und die Sicherheit Europas.3 Legendär wurde die Haltung des rumänischen Partei- und Staatschefs Nicolae Ceauşescu gegenüber der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ 1968. Während die Truppen mehrerer sozialistischer Länder in der Nacht zum 21. August 1968 in die

  • 1 Siehe beispielsweise Monika Tantzscher: Die verlängerte Mauer. Die Zusammenarbeit der Sicherheitsdienste der Warschauer-Pakt-Staaten bei der Verhinderung von „Republikflucht“. Berlin: Bundesbeauftragter für Stasi- Unterlagen (BStU), 1998.
  • 2 Bettina Effner, Helge Heidemeyer (Hg.): Flucht im geteilten Deutschland. Berlin: bebra-Verlag, 2005.
  • 3 Neues Deutschland, 3.2.1967, S. 1: Europäische Sicherheit erfordert Verzicht auf Revanchepolitik. In derselben Ausgabe wurde auf S. 7 der offizielle rumänische Standpunkt wiedergegeben, wie ihn die rumänische

Nachrichtenagentur „Agerpres“ verbreitete. Zugleich druckte das „Neue Deutschland“ mehrere Pressekommentare aus osteuropäischen Zeitungen ab, die durchweg gegen Rumänien argumentierten. Eine derartige Pressekampagne gegen die Politik eines Verbündeten war ungewöhnlich.

Tschechoslowakei einmarschierten, verurteilte Ceauşescu schon am 21. August in öffentlichen Ansprachen die Invasion, bezeichnete sie als Unrecht und kündigte Schritte zur Landesverteidigung Rumäniens an.4

Vor diesem Hintergrund ist die Überlegung nachvollziehbar, dass Rumänien als ein geeigneter Ausgangspunkt für einen Fluchtversuch gesehen wurde und somit, auf dem Umweg über Jugoslawien und Österreich, als einTor zum Westen erschien.

Zwischen 1962 und 1989 haben rund 800 DDR-Bürger den konkreten Versuch unternommen, über die rumänische Westgrenze zu fliehen. Rund 550 von ihnen wurden an der Grenze verhaftet, und mindestens drei kamen bei der Flucht ums Leben. Andererseits gelangten ungefähr 250 DDR-Bürger auf diesem Weg in den Westen. In der Hochphase derrumänischen Autonomiepolitik waren die Flüchtlingszahlen besonders hoch: Allein in den sechs Jahren von 1969 bis 1974 waren fast 350 Fluchtversuche von DDR-Bürgern über Rumänien zu verzeichnen.5

Die rumänische Fluchtroute wird ein Problem für den Staatssicherheitsdienst der DDR

Für den ostdeutschen Staatssicherheitsdienst, das Ministerium für Staatssicherheit (MfS), war im Grunde genommen jede gelungene Flucht eine Flucht zuviel, denn sie wurde als Niederlage des sozialistischen Systems im Wettbewerb mit den westlichen Demokratien interpretiert. Zugleich signalisierten die erfolgreichen Fluchten, dass der geheimpolizeiliche Überwachungsapparat nicht lückenlos funktionierte. Und ganz pragmatisch bedeuteten sie denVerlust von Arbeitskräften, auf die die DDR-Volkswirtschaft angewiesen war.

Rein statistisch bildete die rumänische Westgrenze für das MfS das geringste Problem. Über die Westgrenzen anderer sozialistischer Länder versuchten weitaus mehr DDR-Bürger, in den Westen zu fliehen. In der damaligen Tschechoslowakei wurden zwischen 1963 und 1988 fast zwanzigmal soviele DDR-Flüchtlinge aufgegriffen wie in Rumänien, in Ungarn rund achtmal mehr und in Bulgarien etwa dreieinhalbmal mehr als in Rumänien.6

Rumänien bildete für das MfS jedoch ein besonderes Problem, weil es seit der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre keine Kooperation mehr mit dem dortigen Staatssicherheitsdienst, der Securitate, gab. Andere rumänische Behörden waren seit 1968 gegenüber der DDR vorübergehend ebenfalls nicht mehr kooperativ.

Was bedeutete das praktisch? Bis 1968 kamen DDR-Bürger, die an der rumänischen Grenze festgenommen wurden, in Rumänien in Untersuchungshaft. Das MfS wurde informiert, erhielt von der rumänischen Seite entsprechendeErmittlungsunterlagen und schaffte die Flüchtlinge

  • 4 Der Wortlaut der damaligen Reden Ceauşescus ist abgedruckt in: Dokumentation: Zur Besetzung der CSSR. Die Stellungnahmen der südosteuropäischen Parteiführungen. In: Wissenschaftlicher Dienst Südosteuropa 17(1968)8-9, S. 129-140. Siehe auch Rijnoveanu, Carmen: Die Auswirkungen der Krisen des Ostblocks 1956 und 1968 auf das rumänische Sicherheitskonzept. In: Torsten Diedrich, Walter Süß (Hg.): Militär und Staatssicherheit im Sicherheitskonzept der Warschauer-Pakt-Staaten. Berlin: Chr. Links Verlag, 2010, S. 149- 165.
  • 5 Eine nach Jahren aufgeschlüsselte und mit Quellenhinweisen versehene Statistik der Fluchten findet sich in Herbstritt, Georg: Entzweite Freunde. Rumänien, die Securitate und die DDR-Staatssicherheit 1950 bis 1989. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2016, S. 360f; seitDrucklegung des Buches sind dem Verfasser weitere elf Fluchtversuche von DDR-Bürgern über Rumänien bekannt geworden. Die rumänische Autonomiepolitik machte das Land als Ausgangspunkt für Fluchtversuche zwar interessant, doch auch an den Westgrenzen anderer sozialistischer Staaten stiegen in den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren die Flüchtlingszahlen; vgl. ebenda, S. 362-364.
  • 6 Tantzscher: Die verlängerte Mauer, S. 76. Die bei Tantzscher genannten Zahlen haben vorläufigen Charakter, doch die hier errechneten Relationen sind plausible Näherungswerte. Sie erklären sich mit den unkomplizierten Einreisemöglichkeiten für DDR-Bürger in die Tschechoslowakei sowie mit der größeren Attraktivität Ungarns und Bulgariens als Reiseziele für DDR-Bürger: Urlaubsreisen bildeten oftmals den Ausgangspunkt und den Vorwand für die Flucht über einen Drittstaat.

mit einem Flugzeug in die DDR zurück. Dort wurden sie vor Gericht gestellt und zu einer Gefängnisstrafeverurteilt. Ähnlich verfuhren auch die anderen sozialistischen Länder.

Seit Herbst 1968 lieferte Rumänien die Flüchtlinge jedoch nicht mehr an die DDR aus. Vielmehr wurden die Menschen nun in Rumänien vor ein Gericht gestellt und dort im Regelfall zu einer Haftstrafe von wenigen Monaten verurteilt, die sie in einem rumänischen Gefängnis verbüßen mussten. Danach wurden sie oftmals einfach freigelassen. Kehrten sie dann in die DDR zurück, wurden sie dort ein zweites Mal wegen der gleichen Sacheverurteilt. Die Haftstrafen beliefen sich dabei meistens auf rund zwei Jahre. Diese doppelte Verurteilung war besonders bitter.7

Zwischen 1969 und 1972 gab es aber auch rund zwei Dutzend DDR-Bürger, die nach ihrer Entlassung aus dem rumänischen Gefängnis nicht in die DDR zurückkehrten, sondern erneut an die Grenze fuhren und dann im zweiten Anlauf tatsächlich in den Westen entkamen.8 Im Laufe des Jahres 1971 erhielt das MfS zudem Hinweise, wonach Rumänien inhaftierte DDR- Flüchtlinge gegen entsprechende Geldzahlungen in westlicher Währung in dieBundesrepublik habe ausreisen lassen.9

Diese und weitere Beispiele veranschaulichen den Kontrollverlust des MfS über „seine“ Bürger in Rumänien. In anderen verbündeten Ländern gab es dieses Problem in dieser Form nicht. Dort unterhielt das MfS direkte Geheimdienstkontakte, die ihm Kontroll- und Einflussmöglichkeiten eröffneten, und dort unterhielt es auch dauerhaft stationierte Operativgruppen: das waren MfS-Offiziere, die vor Ort und in enger Zusammenarbeit mit dem Staatssicherheitsdienst des jeweiligen Landes für eine intensive Überwachung der DDR- Bürger sorgten. Nur inRumänien verfügte das MfS nicht über eine Operativgruppe.10

Seit 1969 arbeitete das MfS daran, seinen Kontrollverlust in Rumänien rückgängig zu machen. Da eine Einigung mit der Securitate nicht zustande kam, suchte das MfS Umwege. Es instruierte die Generalstaatsanwaltschaft und das Innenministerium der DDR, mit den rumänischen Behörden verbindliche Regelungen zu vereinbaren, die schließlich im Herbst 1972 in Kraft traten. Fortan wurden DDR-Flüchtlinge nicht mehr in Rumänien vor Gericht gestellt, sondern dem DDR-Konsul in Bukarest übergeben. Der DDR-Konsul musste die Flüchtlinge dann innerhalb von fünfTagen in die DDR ausfliegen lassen.11

Fluchtwege und Fluchtmotive

Auf welchen Wegen versuchten die DDR-Flüchtlinge, unbemerkt über die rumänischen Grenzen zu gelangen? Die Mehrzahl von ihnen unternahmen ihren Fluchtversuch zu Fuß über die rumänisch-jugoslawische Grenze im Banat. Die naturräumlichen Gegebenheiten entlang der Landgrenze erschienen hierfür günstig, handelte es sich doch um das weite, überwiegend landwirtschaftlich genutzte Flachland der ungarischen Tiefebene (pannonisches Becken).

Andere wollten die Donau durchschwimmen oder mit einem Schlauchboot überqueren. Die meisten wählten hierfür den Donauabschnitt um das „Eiserne Tor“, zwischen den Städten Orşova und Turnu Severin. Denn dort verliefen dieFernstraße und die Eisenbahntrasse

  • 7 Zur Problematik der doppelten Verurteilungen, die zwischen 1968 und 1974 rund einhundert DDR-Bürger erlitten, vgl. ausführlichHerbstritt: Entzweite Freunde, S. 346-351.
  • 8 Ebenda, S. 342f.
  • 9 Ebenda, S. 343.
  • 10 Die MfS-Operativgruppen, insbesondere jene in der Tschechoslowakei, Ungarn und Bulgarien, sollten vor allem Fluchtversuche verhindern und Begegnungen zwischen Ost- und Westdeutschen unter Kontrolle halten; vgl. Christian Domnitz, unter Mitarbeit von Monika Tantzscher: Kooperation und Kontrolle. Die Arbeit der Stasi-Operativgruppen im sozialistischen Ausland. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2016.
  • 11 Herbstritt: Entzweite Freunde, S. 342-346, 352-355. In Giurgiu und Deta verurteilten Gerichte noch 1973/74 DDR-Flüchtlinge nach der bis 1972 geübten Praxis; offenbar dauerte es seine Zeit, bis die neuen Regelungen überall ankamen.

zwischen Temeswar und Bukarest direkt entlang der Donau, die hier die Grenze zu Jugoslawien bildete. Somit konnte man sich hier völlig unverdächtig bis an die Grenze begeben. Weitaus weniger suchten einen Fluchtweg über das Schwarze Meer, indem sie in Constanţa in Ausflugsboote nach Istanbul oder in westliche Handelsschiffe stiegen. Häufiger nutzten sie westliche Reisepässe, die sie von Verwandten, Freunden, Fluchthelfern oder der bundesdeutschen Botschaft in Bukarest erhielten. Einige unternahmen ihren Fluchtversuch alleine. Weitaus öfter ließen sich Freunde oder Familien gemeinsam auf das Risiko des verbotenen Grenzübertritts ein.12

Wer es bis Jugoslawien geschafft hatte, war damit aber noch nicht am Ziel. Denn bis 1972 schickten die jugoslawischen Behörden DDR-Flüchtlinge konsequent nach Rumänien zurück. Erst wer unentdeckt die bundesdeutsche Botschaft in Belgrad erreichte, war so gut wie im Westen. Denn dort konnte man einen bundesdeutschen Pass erhalten und damit weiterreisen. Andere überquerten auch die jugoslawisch-österreichische Grenze noch auf Schleichwegen, um jede Begegnung mit jugoslawischen Autoritäten zu vermeiden. Im Sommer 1972 einigten sich Jugoslawien und die Bundesrepublik offiziell darauf, dass DDR-Flüchtlinge in Jugoslawien von der bundesdeutschen Botschaft betreut werden durften und nicht mehr zurückgeschickt wurden. Es sollte allerdings noch einige Zeit dauern, bis diese Vereinbarung überall befolgt wurde. Auch Mitte der 1970er-Jahre kam es noch vor, dass DDR-Flüchtlinge, die bereits jugoslawisches Staatsgebiet erreicht hatten, an Rumänien ausgeliefert wurden.13 Wiebereits erwähnt, glückte fast jeder dritte Fluchtversuch, während mehr als zwei Drittel der DDR-Flüchtlinge von den rumänischen Grenzsoldaten und -kontrolleuren gefasst wurden. Viele wurden bei der Festnahme äußerst brutal behandelt, geschlagen, verprügelt. Darüber geben sogar die Akten der DDR-Staatssicherheit Auskunft. Das MfS störte sich aber offenkundig nicht an der Brutalität der rumänischen Grenzer, sondern nur an den eher nachlässigen Sicherheitsmaßnahmen nach einer Verhaftung. Der folgende Auszug aus einem MfS-Bericht vom November 1978 veranschaulicht das:

„Die Befragung der in der SRR14 festgenommenen Bürger durch die Abt. IX15 zeigt ein widersprüchliches Verhalten der rumänischen Sicherheitsorgane. Bei der Festnahme in Grenznähe gehen sie sehr forsch, teilweise grob vor, was bis zur körperlichen Misshandlung der Festgenommenen geht. Nachdem sich die Grenzsicherungskräfte bzw. Miliz dannvergewissert haben, dass es sich bei den Festgenommenen um DDR-Bürger handelt, lässt das Interesse stark nach. In der Folgezeit werden selbst elementare Sicherheitserfordernisse nicht mehr beachtet. […] Der Transport vom Festnahmeort nach Bukarest erfolgte mit öffentlichen Verkehrsmitteln auf Kosten der DDR-Bürger und in Begleitung von Milizionären. […] So wurden 2 Lehrlinge bei der Festnahme zusammengeschlagen und mit Fußtritten zur nächstenGrenzwache getrieben. Einer Körperdurchsuchung wurden sie jedoch erst nach 2 Tagen auf dem Flughafen unterzogen.“16

Doch wer riskierte eigentlich eine solche Flucht? Rund die Hälfte der DDR-Flüchtlinge in Rumänien warenJugendliche und junge Erwachsene zwischen 15 und 25 Jahren, die meisten anderen auch nur unwesentlich älter. Ihre Motive waren dementsprechend: Sie wollten mehr von der Welt sehen, erhofften sich bessere Lebensperspektiven,lehnten das SED-System mit

  • 12 Ebenda, S. 364.
  • 13 Ebenda, S. 368-371.
  • 14 SRR: Sozialistische Republik Rumänien.
  • 15 Die (Haupt)Abteilung IX war das „Untersuchungsorgan“ des MfS. Sie führte die Vernehmungen von Häftlingen durch und bereitete mit geheimpolizeilichen Maßnahmen strafrechtlich relevante Ermittlungsverfahren vor.
  • 16 ZKG, Abt. 3, 24.11.1978: Der ZKG vorliegende Hinweise zur Rumänienproblematik; BStU, MfS, ZKG 18990, Bl. 1-4, Zitat Bl. 2 f.

seinen Zwängen und Lügen ab, waren abenteuerlustig oder suchten Auswege aus akuten Konflikten.17 Und es handelte sich vor allem um junge Männer. Fast siebzig Prozent der DDR-Flüchtlinge in Rumänien waren männlich. Bedenkt man das Alter und die Motivlage dieser jungen Menschen, so ist offenkundig, dass ihre Kriminalisierung durch die Behörden und die Justiz in der DDR absolut unverhältnismäßig war, und erst recht derSchusswaffengebrauch an der Grenze.

Tödliche Grenze: Grenzsicherung und Schießbefehl in Rumänien

Das eingangs zitierte Bild von der „verlängerten Mauer“ war aus der Perspektive der DDR- Flüchtlinge nachvollziehbar. Aber es ist faktisch unzutreffend. Denn die rumänischen Grenzen wurden nicht deshalb so streng und brutal bewacht, um Ostdeutschen den Weg in den Westen zu versperren, sondern weil es in Rumänien selbst ein enormes Potenzial an Unzufriedenheit und Fluchtbereitschaft in der Bevölkerung gab.

In der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre standen die Zeichen in Rumänien zunächst auf vorsichtige Liberalisierung. Das betraf auch den Reiseverkehr. Jahr für Jahr durften mehr rumänische Staatsbürger aus dienstlichen und privaten Gründen in westliche Länder reisen, und fast alle kehrten auch wieder nach Rumänien zurück. Der Anteil der Nichtrückkehrer stieg von 1967 bis 1969 von 0,4 Prozent auf 1,9 Prozent, oder in absoluten Zahlen von 186 auf 1.393 Menschen.18 Der rumänische Innenminister Cornel Onescu sah diese Entwicklung nicht als Problem, sondern eher als Chance: Viele Nichtrückkehrer qualifizierten sich beruflich im Ausland, überwiesen Geld nach Hause und würden gewiss nach einigen Jahren zu ihren Familien zurückkehren. Doch die rumänische Partei- und Staatsführung entschiedsich Ende 1969 mehrheitlich, zu einer restriktiveren Ausreisepraxis zurückzukehren. Parallel hierzu, und vielleicht auch als Reaktion darauf, stieg die Anzahl der rumänischen Staatsbürger, die über die Grenze zu fliehen versuchten, zwischen 1968 und 1972 deutlich an. Daher erließ der Staatsrat am 26. Oktober 1971 das Dekret Nr. 367/1971 „über den Umgang mit Waffen, Munition und explosiven Stoffen“.19 Dieses Dekret legitimierte und forcierte denSchusswaffengebrauch gegen Flüchtlinge an der Grenze. Seinem Wortlaut nach erschien es zwar harmlos und internationalen Gepflogenheiten zu entsprechen. Doch wie ein Blick in einschlägige Securitate-Akten belegt, handeltees sich genau um das, was landläufig als

„Schießbefehl“ bezeichnet wird: um eine Anordnung, illegale Grenzübertritte mit Waffengewalt unbedingt zu verhindern und Menschenleben dabei nicht zu schonen.20

In den folgenden zwei Jahren fielen auch zwei DDR-Flüchtlinge diesem Schießbefehl zum Opfer. Im August 1972 erschossen rumänische Grenzsoldaten den Pädagogen Rudolph B. Er versuchte zusammen mit zwei weiteren Menschen, in der Nacht vom 17. auf den 18. August 1972 unweit von Hatzfeld (Jimbolia) auf dem Landweg nach Jugoslawien zu gelangen. Sie durchquerten unbemerkt ein großes Maisfeld und erreichten offenes Gelände in unmittelbarer Grenznähe. Versehentlich berührte einer der Flüchtenden, wie es später im Vernehmungsprotokoll hieß, einen Signaldraht. Dadurch seien die rumänischen Grenzer alarmiert worden, die die Flüchtlinge nach kurzer Zeitentdeckten. Einer oder mehrere

  • 17 Herbstritt: Entzweite Freunde, S. 364-366.
  • 18 Ebenda, S. 385. Diese Zahlen basieren auf Daten, die 1969 für das Sekretariat des Zentralkomitees der Rumänischen Kommunistischen Parteizusammengestellt wurden. Sie sollten nur als vorläufige Näherungswerte betrachtet werden.
  • 19 Decret nr. 367 privind regimul armelor, muniţiilor şi materiilor explozive, in: Buletinul Oficial nr. 135, 26.10.1971, im Internet unter http://www.lege-online.ro/lr-DECRET-367-1971-%2821381%29.html (Stand: 2.2.2021).
  • 20 Ausführlich hierzu Herbstritt: Entzweite Freunde, S. 387, 391f, 395-398.
  • Grenzsoldaten zielten auf sie und töten Rudolph B. Die beiden anderen Flüchtlinge wurden festgenommen und wenige Tage danach an die DDR überstellt.21

Im November 1973 töteten rumänische Grenzsoldaten den ostdeutschen Geologen Günther Lange. Ihm war es zunächst gelungen, durch die Donau zu schwimmen und die Kleinstadt Tekija am jugoslawischen Ufer zu erreichen.Die jugoslawischen Sicherheitskräfte schickten ihn jedoch nach Rumänien zurück. Doch er blieb nur kurz in rumänischem Gewahrsam, sei es, dass er rasch wieder auf freien Fuß gesetzt wurde, sei es, dass er den Behörden entkam. Auf jeden Fall unternahm er kurz darauf einen zweiten Versuch, durch die Donau zu schwimmen. Dabei wurde er offenbar von rumänischen Grenzposten angeschossen und verletzt, so dass er ertrank. Sein toter Körperwurde kurze Zeit später in Tekija geborgen.22

Ausblick: Journalistische und wissenschaftliche Aufarbeitung

In Deutschland ist nach 1989 das Themenfeld Flucht, Schießbefehl und Grenze publizistisch, juristisch undwissenschaftlich intensiv bearbeitet worden. In Rumänien ist das aus unterschiedlichen Gründen bis heute nicht der Fall, doch zeichnet sich hier allmählich eine Veränderung ab.

Anfangs wagten sich vor allem rumänische Journalistinnen an dieses schwierige Thema und machten ihre Recherchen publik. Die Bukarester Journalistin Marina Constantinoiu veröffentlichte im Mai und Juni 2005 in der Tageszeitung Jurnalul Naţional eine Artikelserie über Fluchtversuche und Todesopfer an der rumänischen Westgrenze und führte später auf ihrer Internetseite eine Dokumentation zu diesem Thema fort, wobei sie darin viele Schicksale von DDR-Flüchtlingen berücksichtigte.23

Im Jahr 2007 veröffentlichte die Temeswarer Journalistin Doina Magheţi eine viersprachige Broschüre über ihre Recherchen und die dabei aufgetretenen Behinderungen und Schwierigkeiten.24 In den Jahren 2008 und 2010 legte der banatschwäbische Journalist Johann Steiner, der Rumänien 1980 verließ, gemeinsam mit Magheţi eine zweibändigeDokumentation über das Grenzregime und Fluchtversuche aus Rumänien vor, die später auch in rumänischer Sprache erschien. Fluchtversuche von DDR-Bürgern kommen darin vereinzelt vor, doch der Schwerpunkt liegt auf dem Schicksal der Rumäniendeutschen.25 Ebenfalls 2008 publizierte die Temeswarer Fernsehjournalistin Brînduşa Armancaihr Buch „Zeitgeschichte in den Massenmedien: Die Grenzgänger“.26

Bereits 1998 produzierte Armanca den Film „Frontiera de sticlă“ (Die gläserne Grenze) als Porträt über einen Flüchtling und 2000 den Dokumentarfilm „Li se spunea ‚frontieriştii“ (Man nannte sie ‚Grenzgänger‘). Auf derBerlinale 2011 hatte der Kurzfilm „Apele tac“ („Die

  • 21 Ebenda, S. 377-379; BStU, MfS, BV Rostock, AU 160/73, HA Bd. 1, Bl. 48-50.
  • 22 In der rumänischen Tageszeitung „Jurnalul Naţional“ vom 1.6.2005 schildert die Journalistin Marina Constantinoiu in ihrem Beitrag „Pentru mulţi dintre ‚frontierişti’ viaţa s-a încheiat în Dunare“ („Viele Flüchtlinge verloren in der Donau ihr Leben“) den tödlich verlaufenenFluchtversuch Günther Langes im
  • November 1973. Ich danke Cornelius Zach, der mich vor vielen Jahren auf diesen Artikel aufmerksam machte. Vgl. auch Herbstritt: Entzweite Freunde, S. 379f.
  • 23 Der in Fußnote 22 zitierte Artikel war ein Teil dieser Serie; zur Internetdokumentation, an der auch der Journalist Istvan Deák mitwirkt,siehe https://miscareaderezistenta.ro/frontieristii/ (Stand: 2.2.2021).
  • 24 Doina Magheţi: Graniţa. Granica. Die Grenze. A határ. Timişoara: editura Marineasa, 2007; diese Publikation gibt den Text von Magheţi in den vier Hauptsprachen des Banats, rumänisch, serbisch, deutsch und ungarisch wieder.
  • 25 Doina Magheţi, Johann Steiner: Mormintele tac. Relatări de la cea mai sângeroasa graniţă a Europei (Die Gräber schweigen. Berichte von der blutigsten Grenze Europas). Iaşi: editura Polirom, 2009 (vol. I), 2017 (vol. II).
  • 26 Das Buch ist nur in rumänischer Sprache erschienen: Brînduşa Armanca: Istoria recentă în mass-media: frontieriştii. Timişoara: editura Marineasa, 2008; 2., durchgesehene und erweiterte Auflage unter dem Titel Frontieriştii. Istoria recentă în mass-media. Bucureşti: Curtea Veche, 2011.

Gewässer schweigen“; auch als „Stille Wasser“ übersetzt) der Filmemacherin Anca Miruna Lăzărescu über eineFlucht durch die Donau eine viel beachtete Premiere.

Unter der Ägide des Bukarester Instituts für die Untersuchung der Verbrechen des Kommunismus und der Erinnerung an das rumänische Exil (Institutul de Investigare a Crimelor Comunismului şi Memoria Exilului Românesc, IICCMER) haben sich inzwischen auch jüngere Historiker wie Ionuţ Mircea Marcu und Roland Olah diesem Thema zugewandt, wovon ihre Veröffentlichungen aus dem Jahr 2020 künden.27 Die gründliche und wissenschaftlicheErforschung dieses Themas ist noch lange nicht abgeschlossen.

  • 27 Ionuţ Mircea Marcu: Flucht aus Rumänien. Institutionen, Repressionen und Biographien. In: Zeitschrift des Forschungsverbunds SED-Staat, 25. Jg., 2020, Heft 45, S. 41-55; Roland Olah: Fenomenul frontierist. Aspecte sociodemografice privind cetăţeni români reţinuţi în Ungaria pentru trecerea ilegală a graniţei de vest (1980‑1989) (Das Phänomen Grenzgänger. Soziodemografische Aspekte zu rumänischen Staatsbürgern, die inUngarn wegen ungesetzlichen Übertritts der Westgrenze festgenommen wurden (1980-1989)), in: Dalia Báthory, Ştefan Bosomitu, Cosmin Budeancă (Hg.): România de la comunism la postcomunism. Criză, transformare, democratizare. Anuarul Institutului de Investigare a CrimelorComunismului şi Memoria Exilului Românesc, vol. XIV-XV, 2019-2020. Iaşi: editura Polirom, 2020, S. 91-116.

Der nachfolgende Beitrag ist zuerst erschienen in: Reinholz, Halrun: Über die Grenze! Auswanderung, Freikauf und Flucht der Banater Schwaben im kommunistischen Rumänien (= Beiträge der 56. Kulturtagung in Sindelfingen am 28.11.2020 der Landsmannschaft der Banater Schwaben, Landesverband Baden-Württemberg). Stuttgart 2021, S. 53-64.

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